Der Rosenkavalier

„Und?“, blickte Danielas Vater seine Frau fragend an, als sie aus dem Zimmer ihrer Tochter zurückkam. „Sie hat überhaupt nichts angerührt, nicht einmal den Pudding! Sie weint in einem fort. Ich frage mich, wo sie die Unmengen an Tränen herbekommt!“

„Das ist dieser eingebildete Schnösel überhaupt nicht wert!“, brummte Herr Seibold ärgerlich. „Marco war eben ihre erste große Liebe gewesen!“

Und diese große Liebe hatte gestern nach der Schule wegen der im Vergleich zu Daniela deutlich blonderen und oberweitenmäßig besser ausgestatteten Silke aus der Klasse unter ihnen mit Daniela Schluss gemacht. Seitdem hatte sie sich in ihrem Zimmer verkrochen und Rotz und Wasser geheult. Sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, die ihre Tochter in ihrem Kummer so gerne trösten wollte, aber nicht wusste wie. Bisher waren alle Versuche fehlgeschlagen.

„Wie können wir sie nur wieder aufmuntern?“, überlegte sie laut. „Ich habe da so eine Idee“, deutete Danielas Vater gerade an, „ich werde mich morgen darum kümmern.“

„Das Fahrrad auf diesem Foto, kriegen Sie das hin?“ Der Herr im besten Alter und in einem dunklen Anzug schob Jochen ein Polaroid über die Verkaufstheke.

„Das kostet allerdings extra, sozusagen als Zustellungsgebühr!“, verlangte Jochen von seinem merkwürdigen Kunden. „Am Geld soll es nicht scheitern. Das reicht wohl für die ersten beiden Aufträge!“, meinte der Herr und gab Jochen einen Zwanzigmarkschein. „Also, die eine heute Abend, Parkallee 18, und die zweite morgen an der Schillerschule, aber nicht während der Pause, die ist zwischen halb Zehn und Zehn. Verstanden?“ Für wie blöd hält der mich eigentlich, dachte Jochen, antwortete geschäftstüchtig mit einem freundlichen Ja und öffnete seinem seltsamen Kunden beim Gehen die Ladentür.

So ein komischer Auftrag war Jochen während der drei Wochen, seit er im Blumengeschäft seiner älteren Schwester aushalf, um sich ein paar Mark für sein Studium dazu zu verdienen, noch nicht untergekommen! Er sollte heimlich eine einzelne Rose an einem Damenfahrrad befestigen. Das unter anderem an einer Schule stand! Was finden die jungen Dinger an so alten Knackern nur interessant? Wahrscheinlich die Kohle, was anderes konnte sich Jochen nicht vorstellen.

„Und du hast keine Ahnung von wem?“, erkundigte sich Nicole neugierig bei Daniela. Ihre Freundin hatte ihr gerade erzählt, dass sie am Morgen an ihrem Fahrrad, das sie wie jeden Tag hinter dem Haus abgestellt gehabt hatte, eine wunderschöne rote Rose gefunden hatte. „Dein Verehrer hat jedenfalls Geschmack“, fuhr sie anerkennend fort und schnupperte an der Rosenblüte, die Daniela an ihrem Rucksack befestigt hatte. „Wer weiß, vielleicht finde ich jetzt an meinem Drahtesel auch eine!“ Nicole lachte und rannte los, zu der Ecke, an der sie und Daniela seit zwei Jahren ihre Räder im Fahrradkeller der Schule stehen hatten.

„Mensch, Dani, schau mal!“, empfing sie ihre Freundin, die mit etwas Verspätung bei ihr eintraf, und deutete auf den Gepäckträger an Danielas Fahrrad. Dort klemmte erneut eine prächtige rote Rose. Daniela nahm die Blume verwundert in die Hand und überlegte gerade, wer denn ihr unbekannter Rosenkavalier sein könnte, als ihr Ex Marco auftauchte und sie fröhlich angrinste. „Na, wieder alles in Ordnung?“

Das war zuviel für Daniela. „Diesen Schwachsinn kannst du dir sparen, verarschen kann ich mich selber!“, rief sie wütend, zerrte die erste Rose aus ihrem Rucksack und warf die beiden Blumen dem verdutzten Marco vor die Füße. „So ein Scheißkerl!“, schimpfte sie nicht nur während der gesamten Heimfahrt, sondern auch noch beim Essen, als sie sich bei ihren Eltern über den geschmacklosen Streich ihres Verflossenen erboste.

„Morgen soll dieser Brief dabei sein“, reichte der Herr Jochen einen apricotfarbenen Umschlag, „wieder an der Schule.“

Neugierig zog Jochen die Karte heraus, als sein Kunde das Blumengeschäft wieder verlassen hatte und draußen außer Sichtweite war. Für das bezauberndste Mädchen auf der Welt! stand da mit Füller geschrieben. Der Alte trug aber mächtig auf! Anscheinend zog das bei seiner kleinen Lolita! Langsam wurde Jochen neugierig auf die Empfängerin der heimlichen Blumengrüße. Er würde heute während seiner Mittagspause an der Schule warten, um die geheimnisvolle Angebetete endlich einmal kennenzulernen.

„Kennst du die Schrift?“, erkundigte sich Nicole bei Dani, die zum wiederholten Male das tolle Kompliment las, das heute der Rose beigefügt war. „Ist es Marco?“ „Nein, auf keinen Fall, manche Buchstaben kommen mir zwar vertraut vor, aber ich kann sie nicht einordnen.“ „Das ist ja furchtbar romantisch“, schwärmte Nicole und rollte verzückt mit den Augen. „Da kann ja man richtig neidisch werden!“

Als Jochen endlich das wohlbekannte gelbe Fahrrad mit dem kleinen Stoffhündchen am Lenker erkannte, konnte er die Begeisterung seines Kunden nur zu gut verstehen. Das Mädchen war ja wirklich eine ausgesprochen süße Maus!

Eine Woche später brachte Daniela zur Verwunderung ihres Vaters nicht nur die tägliche einzelne Rose, sondern gleich einen gesamten Wiesenblumenstrauß von der Schule mit nach Hause. „Er hat seine Telefonnummer beigelegt!“, rief sie mit vor Aufregung geröteten Wangen und heftigem Herzklopfen. „Ich bin ja so neugierig, wer sich hinter den vielen schönen Blumen verbirgt!“ „Das bin ich allerdings auch“, meinte Herr Seibold, der mit den letzten fünf Blumenlieferungen nichts mehr zu tun hatte.

„Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, meine Eltern beißen nicht!“ Daniela zog Jochen, der am Gartentor stehengeblieben war, ungeduldig am Ärmel. „Komm schon, wir wollen sie nicht unnötig warten lassen!“

Auf ihr erstes Telefongespräch, das gleich zwei volle Stunden gedauert hatte, waren zahlreiche weitere gefolgt, im steten Wechsel mit persönlichen Treffen zu gemeinsamen Unternehmungen. Rad fahren, Eisdiele, Kino, Schwimmen, sogar Spaziergänge, etwas, das Daniela eigentlich verabscheute, mit Jochen jedoch plötzlich traumhaft schön fand.

Da sich Daniela Hals über Kopf in Jochen verliebt hatte und er sein Glück kaum fassen konnte, hatte er ihr nie von dem älteren Herrn erzählt, in dessen Auftrag die ersten Rosen kamen. Anscheinend war es zwischen den beiden aus, vermutete Jochen, also konnte es ihm auch egal sein. Daher verzichtete er darauf, Daniela nachträglich darüber zu informieren und ließ sie in dem Glauben, dass sämtliche Blumen von ihm stammten und nicht nur die letzten Lieferungen vor ihrem Kennenlernen.

Heute wollte Daniela ihren Eltern ihren neuen Freund vorstellen. Diese platzten bereits vor Neugierde und waren dem Kandidaten wohlgesonnen, hatte er doch das Kunststück fertiggebracht, ihre todunglückliche Tochter wieder in ein strahlendes Mädchen zu verwandeln. Frau Seibold hatte extra die aufwendige Schokoladentorte gebacken, die es sonst nur an wichtigen Familienfesten gab.

„Das ist also der berühmte Jochen!“, begrüßte ihn Danielas Vater kurz darauf und nur er allein wusste, weshalb Jochen ihn mit einem derart entgeisterten Blick anstarrte, als würde er einem Gespenst und nicht einem guten Kunden gegenüberstehen...



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