Der blonde Italiener

"Was ist denn mit dir passiert?", fragte Tanja verwundert ihre Freundin Jasmin. Die war gerade kurz in der Eisdiele verschwunden - um sich die lange Wartezeit in der Schlange am Straßenverkauf zu sparen - und brachte bei ihrem Wiederauftauchen neben einer dreikugeligen Milcheisbombe noch einen völlig entrückten Gesichtsausdruck mit.
"Wahnsinn!", seufzte Jasmin verzückt und rollte ihre hübschen grünen Augen gen Himmel. "Da drinnen steht der süßeste Junge, den ich je in menem Leben gesehen habe! Der hat vielleicht ein Lächeln drauf, zum Dahinschmelzen!"
"Man sieht´s", grinste Tanja und deutete auf Jasmins Waffel, auf der sich das Schokoladeneis gerade in einem braunen Rinnsal verdünnisierte. "Dein armes Eis hat es auch schon erwischt!"
"Verdammt!", fluchte Jasmin, als sie die Bescherung sah. Hastig schleckte sie die Tropfen ab, bevor sie ihr auf das weiße T-Shirt plumpsen konnten und sie für den Rest des Tages wie eine Idiotin aussehen ließen. Allerdings waren ihre Bewegungen dabei so ruckartig und hastig, dass sich die oberste Kugel, die nicht eben fest auf dem Eisgipfel gedrohnt hatte, den physikalischen Kräften, die da unvermittelt auf sie einwirkten, nicht standhalten konnte und mit einem lauten Schmatz auf das Straßenpflaster platschte. "Oh, Mann hey", schimpfte Jasmin weiter. "Warum passieren immer nur mir solche Missgeschicke? Dir ist doch noch nie ein Eis runter gefallen, in den ganzen 10 Jahren nicht!"
11 Jahre verbesserte Tanja im Stillen. Sie waren bereits seit 11 Jahren befreundet. Seit dem Kindergarten. Die beiden Freundinnen ergänzten sich auf ideale Weise. Hier die besonnene, eher ruhige Tanja, dort die wildere, extrovertierte Jasmin, die jede ihrer Aktionen zu einem unterhaltsamen Schauspiel machte und keine Minute ruhig sitzen bleiben konnte. Und der eben auch mal ein Eis runter fiel.
"Hoffentlich ist dein schnuckeliger Eisverkäufer den Verlust deiner Pistazienkugel auch wert gewesen!", erinnerte sie Jasmin nun an den eigentlichen Grund ihres Missgeschickes. Auf dieses Stichwort reagierte Jasmin auf ihre typische Aufsehen erregende Art.

"Er ist ein Traum!", schwärmte sie von dem unbekannten Jungen hinter der Theke, den sie gerade mal eine Minute erlebt hatte. "Du müsstest mal seine blauen Augen sehen. Jetzt versteh ich auch den Spruch von wegen tiefen Seen und so. Was für ein Blau! So dunkel und so unergründlich! Der pure Wahnsinn! In diesen Augen versinkst du richtig!" Rasches Luftholen. "Schade, dass er mich nicht bedient hat, sondern nur sein langweiliger Kollege!" Ein Herz erweichendes tiefes Seufzen, kombiniert mit einem traurigen Dackelblick, beendete Jasmins Auftritt.
Tanja lachte und versetzte ihrer Freundin einen aufmunternden Rippenstoß.
"So kenn ich dich ja gar nicht!", meinte sie aufmunternd. "Du hast doch bisher noch immer bekommen was du wolltest! Bestimmt heckst du schon einen Plan aus, wie du dir diesen Traumtypen angeln kannst, stimmt´s?"
"Genau, ich werde mir hier ab heute jeden Tag ein Eis holen!", entgegnete Jasmin. "Und davon richtig fett werden!" Spitzbübisches Grinsen. "Na ja, wohl doch ne schlechte Idee!"
"Aber du würdest ihm garantiert auffallen!", ging Tanja auf Jasmins Idee ein.
"Ja, und zwar als verfressene Tonne!", grinste Jasmin.

Plötzlich wurde ihre Miene ernst und der Geistesblitz, der sie überkam, war ihr förmlich anzusehen. "Ich hab`s", rief sie aus. "Ich werde an der Volkshochschule Italienisch lernen und ihn mit meinen Sprachkenntnissen erobern. Genial! So klappt´s!"
"Ob sich diese Mühe wohl lohnt?", zweifelte Tanja, die mittlerweile durch die offene Tür der Eisdiele einen Blick auf Jasmins Objekt der Begierde geworfen hatte.
"Immerhin ist er blond, vielleicht ist er ja gar kein Italiener?"
Doch Jasmin ließ ihre Zweifel nicht gelten, da sie in ihren Augen unberechtigt waren. "Er heißt Marco und hat mit der Frau, die er gerade bedient hat, Italienisch gesprochen. Er ist Italiener, eben ein blonder. Wie gesagt, etwas Besonderes, mein Traumprinz!"
"Scheint tatsächlich so", gab Tanja widerwillig zu und schluckte die letzte skeptische Bemerkung, die ihr eben noch auf der Zunge gelegen hatte, um des lieben Friedens willen lieber hinunter.

Jasmins Noch-nicht-aber-bald-Romanze erlebte Tanja in den nächsten Wochen hautnah mit.
So begleitete sie ihre Freundin getreulich zur Anmeldung in die Volkshochschule, holte sie regelmäßig nach den Kursstunden ab und trug nicht unwesentlich zu ihrem Lernfortschritt bei, indem sie sich erbarmungslos Italienischvokabeln aufsagen ließ, wo immer sie sich auch gerade befanden. Was heißt Getränk, was bezahlen, was Kind, was Auto, was Obst, was...?
Mit unendlicher Geduld ertrug sie den Umstand, dass in Jasmins Rekorder nun Sprachkassetten statt der gewohnten Balladen liefen, dass Jasmin bei ihren gemeinsamen Klönstunden nur ein einziges Thema kannte und dass sie mit ihr jeden zweiten Tag in die besagte Eisdiele zu schlappen hatte, damit sich Jasmins Anblick unauslöschlich in das Gedächtnis des blonden Italieners brennen konnte. Gerne versicherte sie Jasmin zehnmal vor deren Kurzgastspielen auf der Eisdielenbühne, dass sie einfach umwerfend aussehen würde, gelassen hörte sie sich die soundsovielte Wiederholung von Jasmins Schwärmereien und Schilderungen über den "wunderbaren Marco" an. Und mit ehrlicher Anteilnahme tröstete sie die aufgelöste Jasmin bei den beiden Malen, als Marco in der Eisdiele nicht anzutreffen war und Jasmin ihren Märchenprinzen bereits in den Armen einer anderen Signorina wähnte.
Aber nach sage und schreibe zehn derartig anstrengender Wochen hatte sogar die geduldige Tanja die Nase voll von Jasmins aufwändigen Vorbereitungen voll und drängte nun zur Tat.
"So, genug geprobt, jetzt reicht´s!", verkündete sie entschlossen. "Jetzt kommt dein entscheidender Auftritt!"
Jasmin kapiert sofort. "Heute schon?!", rief sie entgeistert. "Ich kann nicht! Morgen, ich verspreche dir, morgen werde ich ihn ansprechen!"
Doch diesmal blieb Tanja hart. "Nix morgen-heute!", widersprach sie energisch und schob eine sich heftig sträubende Jasmin Richtung Eisdieleneingang. "Du hattest heute die letzte Italienischstunde und bist fast perfekt, du siehst heute total süß aus und außerdem stand heute im Fische-Horoskop, dass heute eine bedeutende Veränderung in deinem Leben eintreten wird! Also ist heute dein großer Tag!"
Das mit dem Horoskop stimmte zwar nicht, aber eine kleine Flunkerei sollte in diesem Falle woghl erlaubt sein, dachte sich Tanja und gab Jasmin einen letzten aufmunternde Klaps. "Ich drück dir die Daumen!"
Sprach´s, drehte sich um und verschwand. Und überließ ihre verliebte Freundin ihrem Schicksal.

Ein vielsagendes Zwinkern seines Kollegen Luca signalisierte Marco, dass das rothaarige Mädchen wieder da war, das sich während der letzten Wochen zu ihrer besten Kundin entwickelt hatte.
Mit ihrer auffallenden roten Naturkrause und den grünen Katzenaugen war sie ihm sofort aufgefallen und sein Herz klopfte jedesmal etwas heftiger, wenn sie an der Theke erschien und bei Luca ihr Eis bestellte. Immer bei Luca, nie bei ihm. Und das war auch der Grund dafür, dass Marco sie bisher noch nicht anzusprechen gewagt hatte. Weil er glaubte, sie käme wegen Luca und nicht wegen ihm. Ihn wunderte nur, dass sie dann nicht auf Lucas eindeutige Flirtversuche eingegangen war, als dieser vor drei Wochen sind Glück bei der unbekannten Schönen probiert hatte.
Vermutlich war sie zu schüchtern, vermutete er insgeheim.
Hey, heute steuerte nicht wie sonst direkt auf Luca, sondern auf ihn zu! Was hatte das bloß zu bedeuten?

"Buongiorno, io vorrei un gelato. Lampone, fràgola e noce. Senza panna", brachte Jasmin in perfektem Italienisch mit kaum hörbarem Akzent hervor.
Marco staunte nicht schlecht. Bereitwillig nahm Marco den Ball auf, den ihm sein spezielle Kundin mit ihrer italienischen Bestellung zugeworfen hatte.
"Du kannst aber gut Italienisch!", lobte er. Komplimente kommen immer an, dachte er sich und legte gleich nach. "Fehlerfrei und fast kein Akzent! Man könnte beinahe meinen, du wärest Italienerin!" Er bemühte sich um sein strahlendstes Lächeln. "Obwohl es wirklich nur wenige rothaarige Italienerinnen gibt."
"Und blonde Italiener wohl auch!", gluckste Jasmin und prustete zu Marcos Verwunderung lauthals los.
Der anschließende Lachanfall trieb ihr die Tränen in die Augen. Was zusammen mit ihrem fröhlichen Gesicht einen wahrlich bezaubernden Anblick bot. Marco war hin und weg. Fieberhaft suchte er nach einem lässigen Spruch für diese verrückte Situation.
"Das beste Mittel dagegen sind zwei Kugeln Schokoladeneis auf Kosten des Hauses!"
"Aber nur wenn das Haus mir sie morgen nach Dienstschluss bei der Konkurrenz spendiert!"
"Gut!", entgegnete Marco und hoffte, seine Riesenfreude zumindest etwas verbergen zu können.
Vielleicht würde er sich morgen dann auch trauen, sie zu fragen, was denn an der rothaarigen Italienierin nur so verdammt komisch gewesen war...



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