Khanh - heimatlos zwischen den Welten

Ngoc-Khanh Hua ist Chinesin, 36 Jahre alt und 1978 mit den so genannten Boat People aus Vietnam geflüchtet. Obwohl Khanh bereits seit 22 Jahren in Deutschland lebt, fühlt sie sich hier immer noch nicht zuhause. Erschwerend kommt hinzu, dass sie aufgrund ihres asiatischen Aussehens den Ausländerhass regelmäßig hautnah zu spüren bekommt. Im folgenden Interview beschreibt sie, wie sie derartige Anfeindungen persönlich erlebt und verarbeitet.

Wie verlief deine Kindheit in Vietnam bis zu deiner Flucht im Alter von 13 Jahren?

Ich lebte bis 1978 in Saigon, einer typischen Großstadt mit vielen Menschen, Lärm, Dreck und extrem chaotischen Verkehrsregelungen. Während meiner Kindheit musste ich bereits vier verschiedenen Sprachen sprechen, so unterhielt ich mich mit meinen Eltern auf Fujian, mit meinen Geschwister auf Kantonesisch und in der Schule lernte ich Mandarin und Vietnamesisch.
Vom damaligen Krieg zwischen Nord- und Südvietnam hat man in der Stadt nicht so viel mitbekommen, man lebte einfach damit, Bombeneinschläge von weitem zu hören, ab und zu wegen Unruhen von der Schule abgeholt zu werden oder sich mit Lebensmittelvorräten bei Bombenwarnungen im Haus zu verschanzen. Die Ausgangssperren in der Nacht und die Berichterstattungen im Fernsehen fand ich damals weniger schlimm als die Angst, auf dem Weg zur Schule entführt zu werden, was in dieser Zeit häufiger vorkam.
Als dann am 30.04.1975 der Krieg vorbei war und die Kommunisten (Nordvietnamesen) einmarschierten, stand ich mit meiner Schwester auf dem Balkon und beobachtete unsere Soldaten, wie sie sich im Davionrennen ihrer Uniformen und Waffen entledigten, um von den Siegern nicht als Feind erkannt werden zu können
Da meine Familie damals nicht nur zu den reichen Kaufleuten gehörte, sondern auch mit den kapitalistischen Amerikanern handelte, wurden wir von den Kommunisten besonders gepiesackt. Sie sperrten uns ein, überwachten uns rund um die Uhr und nahmen uns nach und nach unsere gesamten Besitztümer weg, bis sie uns schließlich ganz aus dem Haus jagten. Meine Eltern sollten künftig mit uns sechs Kindern in einer winzigen Hütte auf dem Land wohnen. Um uns ein angenehmeres Leben zu ermöglichen, verteilten sie uns auf ihre Verwandten, wo wir uns dann versteckt halten mussten, um nicht "entdeckt" zu werden.

Erzähle von deiner Schulzeit in Vietnam!

Sämtliche Fächer wurden sowohl auf Chinesisch als auch auf Vietnamesisch abgehalten, ebenso mussten wir mehrere Schriftarten lernen. Im Gegensatz zu Schülern in Deutschland durften wir nur selten mit den Lehrern sprechen und mussten uns meist mit passivem Zuhören, Nachsprechen, Abschreiben und Auswendiglernen begnügen, z.B. einen ganzen Text von Anfang bis Ende lückenlos vor dem Lehrer auswendig wiedergeben. Um die riesigen Klassen - teilweise über 100 Schüler! - im Griff zu behalten, durften uns die Lehrer schlagen und mit einem Lineal züchtigen, wobei gelegentlich auch Blut geflossen ist. Ich saß als Schülerin zwischen den Stühlen, einerseits wollte ich in der Leistungsrangliste der Klasse nicht zu weit hinten auftauchen, andererseits wollte ich meinen Vater aber auch nicht mit allzu guten Leistungen im "feindlichen", da kommunistischen Bildungssystem verärgern. Könnt ihr euch vorstellen, wegen guter Noten Ärger mit den Eltern zu bekommen?

Beschreibe deine abenteurliche Flucht mit den Boat People aus Vietnam!

Ich war 13, als wir mitten in der Nacht aus Vietnam flohen. In einem völlig überfüllten Wagen wurden wir zu einer "Sammelstelle", später zu einem Boot gebracht und von diesem Boot dann zu einem anderen, den eigentlichen Flüchtlingsschiff. Wir verbrachten die 45 Tage unserer Flucht eingepfercht im dreckigen, stinkigen Lagerraum, wo wir bei großer Hitze gegen Hunger, Durst und Ratten kämpften. Zuerst baten wir Indonesien und Malaysia um Aufnahme, wurden aber abgelehnt. Mit jedem Tag mehr unter diesen unmenschlichen Bedingungen wuchs unsere Verzwieflung stärker an. Nach über einem Monat erklärten sich endlich Deutschland, Frankreich und Kanada dazu bereit, die vietnamesischen Flüchtlinge aufzunehmen.

Wie seid ihr in Deutschland empfangen worden?

Wir wurden hier sehr lieb aufgenommen, was wohl auch an der damaligen Zeit lag, denn Deutschland ging es 1978 wirtschaftlich sehr gut, im Gegensatz zu heute, wo viele Deutsche denken, dass die ausländischen Flüchtlinge ihnen Arbeitsplätze wegnehmen würden.

Beschreibe deine erste Zeit in Deutschland!

Wir wurden gut versorgt und bekamen viele Kleiderspenden vom Roten Kreuz. Natürlich hatten wir Angst vor all dem Neuen hier, der fremden Sprache, den Menschen, der Mentalität. In gewisser Weise bin ich in Deutschland ein zweites Mal geboren worden und musste wieder alles neu lernen.In dieser Zeit gab es keinerlei Ausländerfeindlichkeit, im Gegenteil, wir bekamen alle Sprachunterricht, Sozialhilfe und hatten Ansprechpartner bei Problemen.

Wie war dein persönlicher erster Eindruck von Deutschland?

Da wir zur Vorweihnachtszeit eintrafen, waren meine ersten Eindrücke zauberhaft. Schnee, mit gelben Lichterketten geschmückte Innenstädte und Häuser wirkten sehr gemütlich und warm auf mich.

Womit hattest du beim Lernen der deutschen Sprache die größten Schwierigkeiten?

Für einen Ausländer ist es wirklich sehr schwer, die deutsche Sprache zu lernen. Ich hatte vor allem mit der komplizierten Beugung zu kämpfen, da gab es nicht nur unterschiedliche Geschlechter und Fälle, sondern auch noch gebeugte Adjektive und unregelmäßige Verben, die ich allesamt auswendig lernen musste. Dazu kam noch die ungewohnte Aussprache, vor allem das R fällt uns Asiaten sehr schwer, wir sprechen es dann meist aus dem Rachen oder wie ein L.

Wie fandest du die deutsche Schule?

Die hat mir sehr gut gefallen, weil man im egensatz zu Vietnam aktiv am Lernen beteiligt wird und viele Möglichkeiten hat, sich im Unterricht einzubringen. Hier durfte ich nachfragen und meine eigene Meinung äußern, was in meiner alten Schule unmöglich gewesen wäre! Am meisten Probleme bereitete mir natürlich die Sprache. Bis ich die Fragen, Texte und Aufgaben mühsam übersetzt und eine Antwort formuliert hatte, waren die deutschen Schüler schon längst fertig. Bei Gesprächen musste ich mich immer entscheiden, entweder ein unbekanntes Wort nachzuschlagen oder die nächsten Sätze mitzubekommen.

Fühlst du dich heute in Deutschland wohl oder würdest du lieber in einem anderen Land wohnen? (In welchem?)

Ich fühle mich in Deutschland wohl, wenn ich weiß, dass mich die Menschen mögen. Wenn ich dagegen Ablehnung zu spüren bekomme, möchte ich am liebsten gleich weg aus diesem Land.

Kannst du kurz die chinesische Mentalität beschreiben und mit der deutschen vergleichen?

Die Chinesen sind höflicher und halten gegenseitigen Respekt für sehr wichtig. Sie sind zu jedem Menschen sehr freundlich, typische Gesten hierfür sind das Lächeln und kurze Nicken zum Gruß. Etwas mehr lächeln und fröhlichere Gesichter würde den Deutschen sicher gut tun und den Umgang untereinander verbessern.
An den Deutschen finde ich wiederum gut, dass sie sehr pünktlich sind und ehrlich ihre Meinung sagen, wenn auch manchmal nicht mit dem erforderlichen Fingerspitzengefühl. Aber wenigstens sind sie ehrlich und nicht "hintenherum".

Was ist für dich dein Zuhause, deine Heimat?

Eigentlich habe ich keine Heimat. Zwar bin ich von meiner Abstammung her Chinesin, aber ich war bis jetzt nur zwei Mal in China in China fühlte ich mich nicht wohl. Ich fühlte mich nicht dazugehörend, weil ich doch anders bin. Abgesehen davon, dass ich in Vietnam geboren und bis zum 13. Lebensjahr dort aufgewachsen bin, habe ich keine richtige Beziehung zu diesem Land, weil ich chinesisch erzogen war. Ich hatte keine einzige vietnamesische Bekanntschaft. In Vietnam haben wir nur unter Chinesen gelebt. Aus der Sicht der Vietnamesen waren wir auch Ausländer, die in Vietnam nichts zu suchen hatten. In Deutschland wiederum fühle ich mich nicht zuhause, weil ich das Gefühl habe, man akzeptiert mich nicht. Vielleicht werde ich meine Heimat eines Tages in einem anderen Land finden.

Hast du hier Kontakt zu vielen anderen Chinesen? Pflegt ihr so was wie ein chinesisches Netzwerk?

Nicht sehr viel, dazu gibt es einfach zu wenig Möglichkeiten. Hier in Deutschland sind nicht so viele Asiaten, auch wenn viele Deutschen denken, dass wir Deutschland überfluten. Wenn man tatsächlich mal andere Chinesen kennen lernt, pflegt man dann den Kontakt besonders sorgfältig. Da wir meist ziemlich auseinander wohnen, beschränkt sich das auf Anrufe, Mails und Kartengrüße.

Kannst du kurz das typische chinesische Essen beschreiben?

Wir essen hauptsächlich Reis und viel Gemüse, Fleisch lediglich als Streifen im Gemüse drinnen, aber nicht als riesiges Extrastück wie beim deutschen Essen. Die chinesischen Gerichte in den Restaurants hier sind auf jeden Fall nicht Original, sondern allesamt "verdeutscht".

Isst du mehr deutsche oder mehr chinesische Gerichte?

Wenn ich koche, dann meist Chinesisch, in der Kantine esse ich natürlich deutsche Gerichte. Allerdings ist mir die deutsche Kost oft zu fett.

Worin unterscheidet sich das chinesische (Familien-) Leben im Vergleich zum europäischen?

In den chinesischen Familie ist man abhängiger voneinander, hält aber mehr zusammen und hilft sich stärker. Kinder haben sich den Eltern unterzuordnen.
In Europa dagegen wird man zu mehr Selbstständigkeit erzogen und soll auch bei Problemen möglichst alleine zurechtkommen. Das macht die Menschen irgendwie kämpferischer, rücksichtsloser und egoistischer. Oder kann es zumindest.

Was würdest du an deiner jetzigen Situation hier in Deutschland gerne ändern?

Eigentlich geht es mir hier sehr gut, denn ich habe einen tollen Job und Erfolg mit meinem Hobby, der Malerei. Was ich mir jedoch wünschen würde, wäre, als Mensch akzeptiert zu werden und keine Angst vor ausländerfeindlichen Angriffen haben zu müssen. Und das Wetter sollte etwas besser, vor allem wärmer sein.

Wie bekommst du denn in deinem täglichen Leben den Ausländerhass in Deutschland zu spüren?

Mit den Blicken der Leute. Viele schauen mich mit einem verächtlichen oder vorwurfsvollen Gesichtsausdruck an, so als ob ich minderwertig oder Schuld an der Arbeitslosigkiet wäre. Neben diesen unangenehmen Blicken bekomme ich dann noch die verbale und körperliche Gewalt zu spüren. So wurden meine Eltern auf dem Bahnsteig von einer Deutschen als faules Pack beschimpft, ich selbst von einem Autofahrer, der an der Ampel neben meinem Fahrrad hielt. Einmal wurde ich auch aus dem Bus gestoßen und von einem wildfremden Fahrradfahrer grundlos getreten. Dagegen war es ja noch richtig harmlos, als die Angestellte bei der Ausländerbehörde beim Abholen meines Passes lauthals durch den Raum rief, dass sie nicht verstünde, weshalb Ausländer einen deutschen Pass haben wollen...

Wie reagierst du in solchen Situationen dann?

Ich bin dann jedesmal vor Entsetzen gelähmt und dermaßen geschockt, dass ich nicht spontan reagieren, zurückschimpfen oder mich sonstwie wehren kann. In solchen Situationen fühle ich mich einfach nur ohnmächtig und brauche dann immer ziemlich lange, bis ich das jeweilige Erlebnis verarbeitet habe. Eigentlich will ich mich auch gar nicht wehren, damit die Sitaution für uns Ausländer in Deutschland nicht noch schwieriger wird.

Hast du Angst?

Ja, ich habe viel Angst, vor allem wenn ich einen entsprechenden Fernsehbericht über verfolgte, zusammengeschlagene oder gar ermordete Ausländer sehe.

Was möchtest du den deutschen Jugendlichen besonders ans Herz legen?

Sie sollen versuchen, sich immer in die Lage des anderen zu versetzen, bevor sie ein Urteil fällen oder gedankenlos handeln. Auch Deutsche sind Ausländer, wenn sie im Ausland sind, und es sind nicht wenige. Doch hat man sie jemals schlecht behandelt? Nein! Wir konnten uns unser Schicksal nicht aussuchen, wir würden ganz bestimmt lieber eine "richtige Heimat" haben, um euch in unserer Heimat - unserem Land - herzlich empfangen zu können. Alle Menschen sollen friedlich und mit Toleranz, Höflichkeit und Respekt gegenüber den anderen miteinander leben.

Was würdest du dir am meisten wünschen?

Ich wünsche mir, dass es nirgendwo und nie mehr Kriege geben wird, und dass ich mich endlich irgendwo wohl fühlen und leben kann, ohne verachtet und gehasst zu werden.

© 2000 Anja Gerstberger